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Komm mit mir nach Santiago

Klappentext 

von Sandra Kerl

Nachdem die Autorin von ihrem Körper die rote Karte gezeigt bekommen hat, macht sie endlich Nägel mit Köpfen und sich auf den Weg von Saint-Jean-Pied-de-Port in Frankreich nach Santiago de Compostela. Zurück bleiben die jahrelangen Bedenken und Ausreden, dafür dürfen Mut, der unbedingte Wille, es zu schaffen, und eine Handvoll bunt bemalter Pilgersteine mit ins Gepäck. Mit viel Humor und Selbstironie erzählt Sandra Kerl von ihren zum Teil skurrilen Erlebnissen, den körperlichen Herausforderungen und vielen bewegenden Begegnungen auf den nicht immer einfachen 800 Kilometern des Camino Francés.

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Dieser ungewöhnliche Reisebericht ist ein bunter Blumenstrauß an Emotionen und erweckt den Wunsch, sofort den eigenen Rucksack für das größte Abenteuer mit sich selbst zu packen.

Eine Anleitung zum Nachmachen und Mutigsein.

 Leseprobe:


6 – Die frühe Löwin fängt den Pilger

»Es ist gut, ein Ende zu haben, dem du entgegenreist, aber es ist die Reise, die am Ende zählt.«

(Ernest Hemingway)

Leck mich in de Täsch!

Ich, frischgebackene Pyrenäenbezwingerin, bin nicht unbedingt frohgemut, als um sechs Uhr morgens ohne Vorwarnung grelles Licht durch das Kloster tobt. Jemand hat zentral die gleißende Deckenbeleuchtung angeschaltet.

Nach der Höchstleistung des vergangenen Wandertages und der durchfrorenen Nacht in Orisson habe ich bei dieser zweiten Versuchsanordnung Mehrbettsaal zwar nicht wie ein Baby, aber deutlich besser geschlafen. Trotzdem war es bei Weitem nicht genug, um mich zu erholen.

Während ich mich mühsam aufsetze und auf die hell erleuchteten drei Quadratmeter vor meinem Bett starre, entsteht in diesem Areal schon lautstarke Betriebsamkeit. Bilder, die nicht für jeden Ästheten direkt nach dem Wachwerden zumutbar sind, fluten meine müden Augen. Mir fremde männliche Silberrücken, bekleidet nur mit Unterhose und Badelatschen, schlappen geschäftig hin und her. Hoffentlich finden sie bald ihre T-Shirts und Hosen. Es gibt Momente, da wünscht man sich, stark kurzsichtig zu sein. Leider sehe ich viel zu viele Details viel zu klar.

Das übliche Morgenkonzert aus ritschenden und ratschenden Reißverschlüssen, klickenden Rucksackschnallen und raschelnden Schlafsäcken setzt ein, heute begleitet von einem hartnäckigen Raucherhusten und einem epochalen Schnäuzen aus dem Nachbarschlafabteil.

Ich gähne herzhaft wie eine Löwin. Für eine ungestörte Bettruhe hätte ich die Mühe in Kauf genommen, den einen oder anderen halbnackten Störenfried hinterrücks anzufallen und kräftig solange zu schütteln, bis er still ist.

Um acht Uhr schließt das Kloster bis zur nächsten anrollenden Pilgerwelle seine Pforten. Bis dahin müssen alle Pilger losgewandert sein – oder aufgefressen.

 

Die erste Attraktion des Tages zeigt sich kurz hinter dem Kloster in Gestalt eines Straßenschildes. Es ist ein stinknormales Schild, montiert auf einem schmalen Grasstreifen zwischen Fahrbahn und Fußweg, als Hinweis für Autofahrer. Es gehört wahrscheinlich zu den meist fotografierten Motiven der Welt. Der Pilgerwelt. Es ist deshalb so attraktiv, weil darauf die Entfernung von hier bis nach Santiago angegeben ist. Es sind siebenhundertneunzig Straßenkilometer. Der markierte Weg für die Pilger verläuft natürlich anders, ist aber nur unwesentlich kürzer. Diese Zahl ist eine gewaltige Ansage für jeden Fußgänger. Alle Santiago-Erstpilger halten unter diesen drei schwarzen Ziffern kurz an. Für ein Selfie. Mit ihren noch keimenden Wünschen und verschütteten Träumen. Mit hoffnungsvollen Herzen und unruhigen Seelen, die voller gepackt sind als ihre Rucksäcke. Mit wilden Gedankenstrudeln und siebenhundertneunzig ungelösten Fragen.

Für Mathematiker wäre sicherlich eine davon, herauszufinden, wie viele Menschen in den letzten dreißig Jahren schon neben dem Schild gestanden haben, um sich fotografieren zu lassen.  Aber auch Botaniker oder stinknormale Leute wie ich fänden das interessant. Es wächst nämlich an dieser ausgetretenen Stelle schon lange kein Gras mehr. Allerdings vermute ich, die Mehrheit der Menschen hätte vorrangig lieber dringendere Fragen beantwortet.  

Natürlich kann auch ich mich diesem auskunftsreichen Schild nicht entziehen und bitte jemanden, für mich auf den Auslöser zu drücken.

In einigen Wochen werde ich sicher stolz auf die behutete Gestalt auf dem Foto schauen, die ein wenig naiv grinsend auf die Tafel zeigt.

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Reading sample 


6 – The early lioness catches the pilgrim 

Holy cow!

As a recent Pyrenean conqueror, I am not exactly cheerful when at six o'clock in the morning a bright light sweeps through the monastery. Someone has switched on the glaring ceiling lights without warning. After the peak performance of the previous day's hike and the freezing night in Orisson, I had expected to sleep like a baby in this second dormitory experiment. That didn't happen though, but I slept much better than the previous night. Nevertheless, it was nowhere near enough for me to recover.

As I struggle to sit up I stare at the brightly lit three square metres in front of my bed, the area is already buzzing with activity. Images that are not acceptable for every aesthete immediately after waking up flood my tired eyes. Strange male silverbacks, dressed only in their pants and flip-flops, shuffle back and forth busily. I hope they find their T-shirts and trousers soon. These are the moments when you wish you were very short-sighted. Unfortunately, I can see far too many details far too clearly.

The usual morning concert of rattling and clattering zips, clicking rucksack buckles and rustling sleeping bags begins, today accompanied by a persistent smoker's cough and an epochal snort out of the neighbouring sleeping compartment. I yawn like a lioness.

For an undisturbed night's sleep, I would have gone through the trouble of attacking one or another of these half-naked troublemaker from behind and shake his neck terribly.

At eight o'clock, the monastery closes its doors until the next wave of pilgrims arrives. By then, all the pilgrims must have left - or been eaten.

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The first attraction of the day appears just behind the monastery. It’s a road sign for drivers, mounted on a narrow strip of grass between carriageway and footpath, and it is probably one of the most photographed in the world.

It causes such a huge attention because of the distance it is announcing. From here!!! to Santiago seven hundred and ninety kilometers. The marked route for pilgrims is of course a different one, but only slightly shorter. This figure is a huge statement for any wanderer. All first-time pilgrims to Santiago stop briefly under these three black numbers. For a selfie. With their still germinating wishes and buried dreams. With hopeful hearts and restless souls heavier packed  than their backpacks. With a whirlpool of thoughts and seven hundred and ninety unresolved questions in their mind.

For mathematicians, one of these would certainly be to find out how many people have stood next to the sign to have their photo taken in the last thirty years. But also botanists or other ordinary people like me would likely find that matter interesting. There hasn't been any grass growing in this well-worn spot for a long time. However, I suspect that the majority of people would rather have more pressing issues to deal with. Of course, I can't resist this opportunity and ask someone to press the shutter for me.

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In a few weeks' time, I will probably proudly be looking at the delightful

 figure in the photo, who is pointing at the sign with a slightly naive grin.

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